„Inklusive Bildung braucht Mut und Überzeugung“

Jakob Appold war einer der ersten Schüler mit Behinderung in der inklusiven Sophie-Scholl-Schule Hanau / Liebe zu Technik und Musik entdeckt

Jakob ist ein Jugendlicher in Jeans und gelbem Kapuzenpulli. Sein Lächeln erobert die Herzen im Sturm. Wenn er aufgeregt ist, spricht er mit sich selbst. Oder er greift nach dem Mobiltelefon, um sich in Spiele zu vertiefen. Jakob kann nicht gut hören und seine Lautsprache ist schwer verständlich. Seine Liebe zu Technik und Musik hat er in der Sophie-Scholl-Schule entdeckt. Der heute 16-Jährige war einer der ersten Schüler der inklusiven Grundschule in Hanau-Lamboy.

Was es für ihn bedeutet hat, gemeinsam mit anderen Kindern mit und ohne Behinderungen eine Schule zu besuchen, das drückt Jakob nicht mit Worten aus. Doch seine Körpersprache und seine Mimik lassen sich gut lesen. Auch Gebärden hat Jakob in der Sophie-Scholl-Schule gelernt – und er kann hervorragend mit dem I-Pad umgehen. Er benutzt den Computer als Arbeitsmittel und als seine Stimme. „Auch das wurde von der ersten Stunde an von seinen Lehrerinnen und Lehrern unterstützt“, berichtet Eva Appold, die sich gemeinsam mit anderen Eltern dafür eingesetzt hatte, dass 2013 in Hanau eine inklusive Grundschule gegründet werden konnte. Übrigens die erste in der gesamten Region.
„Das Gefühl von damals kommt zurück, wenn ich daran denke“, erklärt sie und wischt sich kurz über die Augen. „Es ist kaum zu beschreiben, wie glücklich und erleichtert wir waren.“
Gemeinsam mit anderen Elternpaaren hatten Appolds lange um die inklusive Grundschule gekämpft. Begegnet waren sich die jungen Eltern in der Beratungs- und Frühförderstelle des BWMK (Behinderten Werk Main-Kinzig) in Hanau. „Durch die gemeinsame Krabbelgruppe entstanden schnell freundschaftliche Beziehungen – und der Wunsch, dass wir für unsere Kinder nach der Kita eine geeignete Schule finden.“ In Martin Berg, seinerzeit Vorstandsvorsitzender des BWMK, und der Chefin des Verwaltungsrats, Doris Peter, habe die Elterngruppe starke Fürsprecher gefunden. „Die beiden sind echte Möglichmacher“, so Appold.

Teil der Gesellschaft sein können
Es sei nicht einfach gewesen, die Öffentlichkeit für das Projekt zu gewinnen. Durch offenen Dialog habe man die Vertreter:innen von Schulamt, Politik und Förderschulen über das inklusive Konzept informiert und schließlich alle Widerstände überwunden.
„Als die Schule in freier Trägerschaft des BWMK 2013 eröffnet werden konnte, war das ein unbeschreibliches Gefühl“, erinnert sich Eva Appold. „Das haben wir für unsere Kinder geschafft. Es herrschte absolute Aufbruchstimmung.“
Dass Jakob in der Sophie-Scholl-Schule Raum für sich und die Entwicklung seiner Talente finden konnte, das sei für den Jungen und seine Familie ein Segen gewesen. Jakob kam als erstes Kind der Appolds mit einem unbekannten Syndrom zur Welt. Er hört schlecht, seine Entwicklung ist verzögert, er hat kognitive Beeinträchtigungen und autistische Züge.
Für Eva Appold und ihren Mann bedeutete das zunächst: Gefühlschaos. „Den Traum, den wir für unser Kind hatten, mussten wir komplett loslassen“, sagt sie. „Aber mit der Zeit entsteht ein anderer Traum, es beginnt eine andere Reise.“ Zur Familie, die in Schöneck-Büdesheim lebt, gehören noch zwei Töchter, Jakobs jüngere Schwestern, die das Karl-Rehbein-Gymnasium in Hanau besuchen.
Heute ist es für Appolds am Wichtigsten, dass Jakob Teil der Gesellschaft sein kann. „Und das ist in gewissem Maß möglich.“ Davon ist Eva Appold überzeugt, denn bevor sie selbst an Familie und Kinder dachte, war sie Austausch-Schülerin an einer High School in Kanada und erlebte dort, wie gemeinsames Lernen und Leben an der Schule funktionieren kann. „Bei sehr vielen Aktivitäten im Schulalltag konnten sich Kinder mit und ohne Behinderungen beteiligen. Und wenn es ums Lernen ging, gab es unterschiedliche Formen des Unterrichts und der Unterstützung -  je nach Bedarf und Eigenschaften der Schüler“, erinnert sie sich. Damals hat Eva Appold gelernt, wie wichtig es ist, genau hinzuschauen. „Es geht nicht darum, eine Behinderung zu tarnen oder wegzudiskutieren, indem ich das Kind um jeden Preis in eine Regelschule schicke. Es geht darum, das Geeignete für jedes einzelne Kind zu finden.“ In der Sophie-Scholl-Schule habe Jakob erlebt, dass letztendlich alle Kinder besonders sind – und jedes seine persönlichen Talente mitbringt.

Kleine Klassen, große Methodenvielfalt
Der technikaffine Jakob war von den Whiteboards in seiner Grundschule begeistert, und mit dem I-Pad standen ihm plötzlich völlig neue Wege offen, um sich auszudrücken und sich am Unterricht zu beteiligen. So konnte er mit Hilfe des I-Pads beispielsweise einen kleinen Vortrag über Delphine ausarbeiten und vor seiner Klasse halten. Lesen, schreiben und rechnen hat Jakob in der Sophie-Scholl-Schule auch gelernt – in seinem Tempo und mit der Unterstützung, die er brauchte. „Auch die Kinder ohne Behinderung profitieren von diesem inklusiven Konzept“, ist sich Eva Appold sicher. Aus ihrer Sicht liegt das an mehreren Faktoren – zum Beispiel auch an der Zusammensetzung des Personals, denn an der Sophie-Scholl-Schule kümmern sich Lehrer:innen und Erzieher:innen um die Kinder, es gibt kleine Klassen mit maximal 22 Schüler:innen und eine ausgeprägte Methodenvielfalt. Hinzu komme eine verlässliche Betreuung bis 16.30 Uhr, so bleibe mehr Zeit zum Spielen, Lernen und für Bewegung.
Auch auf die Entwicklung der sozialen Kompetenzen wird großer Wert gelegt. Durch die jahrgangsübergreifenden Strukturen und die Organisation des Unterrichts lernen die Kinder schnell, sich gegenseitig zu unterstützen und gemeinsame Ziele zu erreichen.
Dennoch ist sich Eva Appold auch der Grenzen inklusiver Bildung bewusst, denn nach der Grundschule gibt es kaum eine Option, eine Schule mit ähnlichem Konzept zu finden. „Jakob in eine Regelschule zu schicken, hätte ihn überfordert.“ So haben sich Appolds für die Johannes-Vatter-Schule in Friedberg entschieden, einer Bildungseinrichtung mit dem Förderschwerpunkt Hören.
„Eine inklusive Gesamtschule wäre natürlich ein Traum“, so Appold. „Aber inklusive Bildung braucht Mut, Kraft und Überzeugung.“ Die Kultur, genau hinzuschauen und wahrzunehmen, was ein Kind brauche, um sich gut zu entwickeln, sei in Deutschland unterentwickelt. „Wir sind nach wie vor eine Leistungsgesellschaft, die mit engen Kategorien arbeitet“, unterstreicht Appold, „wer da nicht hineinpasst, hat verloren.“
Umso wichtiger sei es, dass es alternative Bildungskonzepte wie in der Sophie-Scholl-Schule gebe. Um das Leben in einer vielfältigen Gesellschaft gut zu gestalten, brauche es ein Bildungssystem, das den Umgang mit Vielfalt fördere.
Jakob und seine Familie haben auch dank der positiv erlebten Grundschulzeit einen guten Weg miteinander gefunden. Der Jugendliche hat viele Talente – unter anderem liebt er seit seiner Mitgliedschaft im Chor der Sophie-Scholl-Schule Musik und fungiert mit Begeisterung als DJ. Einer seiner Lieblingsmusiker ist Adel Tawil. In einem seiner Lieder heißt es: „Kann schon sein/Dass ich nur ein Träumer bin/ Doch ich stell' mir vor/Wir kriegen das zusammen hin/Denn wir alle sind Menschenkinder/Alle Sucher und Neuerfinder.“

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